Bernd ist am Leibniz Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) und spricht mit Prof. Dr. Jan G. Hengstler, Wissenschaftlicher Direktor und Leiter des Forschungsbereichs Toxikologie und Systemtoxikologie und Eva Mühle von der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des IfADo.
Was hat Arbeitsforschung mit Wirkstoffen zu tun? Wenn etwas auf den Körper wirkt, kommt auch immer die Toxikologie ins Spiel, also die „Giftkunde“. Für die Arbeitssicherheit werden die gleichen Prinzipien angewandt wie für die Wirkstoffforschung – man möchte genau wissen welche Dosis, welches Stoffes für den Menschen eine Gefährdung darstellen.
„Toxikologie ist die schädliche Wirkung von Chemikalien auf Zellen, Organismen oder auch ganze Ökosysteme.“ Prof. Jan Hengstler.
Der Bereich der Toxikologie, der sich mit den Auswirkungen auf Ökosysteme beschäftigt, heißt Ökotoxikologie. Während bei der Humantoxikologie Gefahren für den Mensch im Mittelpunkt stehen, wird in der Ökotoxikologie untersucht ab welcher Dosis einer Substanz Gefahr für einzelne Tiere, Pflanzen oder andere Teile eines Ökosystems besteht. Eigentlich gibt es gar keine so strikte Trennung zwischen der Wirkstoffforschung und der „Arbeits-Toxikologie“, dass unterschiedliche Forschungsfelder definiert wurden, hängt lediglich mit der Anwendung der Erkenntnisse zusammen – die angewandten Methoden sind gleich.
Eine sehr wichtige Unterscheidung in der Toxikologie wird gemacht zwischen Stoffen, die immer schädigend wirken und Stoffen, die erst ab einer bestimmten Schwelle schädigen. Krebserregende Stoffe (Kazinogene) wirken immer schädigend wohingegen manche Gift erst ab einer gewissen Dosis schädlich sind, und Aufnahme unterhalb dieser Dosis ungefährlich sind. Das klingt sehr technisch, aber das Vorgehen diese Unterscheidung zu machen ist recht einfach: Sobald eine Substanz an die DNA einer Zelle bindet oder diese sogar verändert, kann für diese Substanz keine Schwelle festgelegt werden. Mutagenitätsforschung ist die Disziplin, die sich mit solchen Analysen beschäftigt.
Kurz zu Metaboliten (wikipedia-Artikel), Computer-Simulationen dazu, die Herr Hengstler auch „in silico“ nennt, und zu den diversen Experimenten, um Metabolite zu untersuchen. All das muss auch bei jedem Arzneimittel gemacht werden.
Wir kommen zur Toxikologie in der Arbeitsumgebung, beziehungsweise zur Arbeitssicherheit. Jede Chemikalie, die produziert wird, und auch jeder Stoff, müssen hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit für die Personen bewertet werden, die in der Produktion damit in Kontakt kommen. Aber natürlich sind die toxikologischen Untersuchungen der Arbeitsumgebung auch eine wichtige Information für den Verbraucher. Prof. Hengstler gibt eine Einschätzung, mit wie vielen Stoffen die Toxikologie zu tun hat: Aktuell gibt es in Europa mehr als 100.000 Stoffe, von denen mehr als 1 Tonne pro Jahr hergestellt wird. Würde man die Stoffe mit zählen, die eine noch kleinere Produktionsmenge pro Jahr haben, würde man in den hohen, zweistelligen Millionenbereich kommen. Daher ist es für die Forschung von Prof. Hengstler wichtig, die Wirkmechanismen genau zu verstehen, da es bei der Menge an Stoffen unmöglich ist, jeden einzeln zu untersuchen.
Der Unterschied zwischen der Wirkstoffforschung und der Toxikologie ist: In der Toxikologie müssen die Analysen umfassender sein. Toxikolog*innen dürfen nichts übersehen, da jede Schädigung oder Gefährdung durch einen Stoff gefunden werden muss. In der Wirkstoffforschung „reicht“ es ja schon, wenn ein gewünschter Effekt auf einen Organismus gefunden wird. Wenn ein Wirkstoff dann Arzneistoff werden soll, also in einem Medikament verwendet werden soll, dann muss dieser Wirkstoff auch toxikologisch untersucht werden.
Prof. Hengstler spricht des öfteren von der Einheit „molar“. Bernd und Herr Hengstler erklären diese Einheit der Stoffmenge, oder auch Konzentration, aber hier sind noch ein paar Links zum Weiterlesen:
In der Toxikologie ist das Bild eines Stoffes meistens nicht schwarz oder weiß (giftig oder nicht giftig), erklärt Prof. Hengstler. Ab einer bestimmten Konzentration sind so gut wie alle Stoffe auf die ein oder andere Art gefährlich.
Es gibt für die Zulassung von Medikamenten Gesetze, die genau regeln, welche toxikologischen Untersuchungen gemacht werden müssen. Prof. Hengstler zählt einige auf und geht auch auf einige Methoden ein, auch auf jene, die in Zukunft vielleicht in der Lage sind, Tierversuche ersetzen zu können. Bei letzteren geht es vor allem darum, genau zu verstehen, wie toxische Stoffe (oder „böse Buben“ im Podcast) genau funktionieren. Frau Mühle weist dann darauf hin, dass dies ja genau einer der Schwerpunkte des IfADo ist – Mechanismen der gefährlichen Substanzen genau verstehen lernen.
Wir kommen zum Thema akute Toxizität und Herr Hengstler gibt dazu das Beispiel Paracetamol. Nimmt man bis zu 3 g dieses Medikaments, hilft es gegen viele Beschwerden, nimmt man allerdings 10 g oder mehr, kommt es sehr häufig zu einem Leberschaden. Diese akute Toxizität ist einfach zu untersuchen. Schwieriger wird es bei der chronischen Toxizität, bei der Herr Hengstler das Beispiel Asbest bringt. Asbestfasern haben keine unmittelbare Wirkung, unter Umständen zeigen sich die Auswirkungen von eingeatmeten Fasern erst 40 Jahre später. Weitere Links dazu: Toxizitätsbestimmung (Wikipedia-Artikel)
Mit genauer Kenntnis der Wirkmechanismen von vielen Stoffen können sehr gute und sichere Voraussagen getroffen werden, wie sich ein Stoff auswirken kann – so können auch Tierversuche vermieden werden. Genau deswegen sind auch die einzelnen Abteilungen der Toxikologie am IfADo nach Organen sortiert. Eine Ausnahme bildet dabei die Abteilung Systemtoxikologie. Dieser Fachrichtung liegen Mathematik und Computerwissenschaften zu Grunde und betrachtet Auswirkungen von Substanzen aus der Vogelperspektive. Wenn beispielsweise ein Stoff auf einige hunderte Gene wirkt, analysiert die Systemtoxikologie, ob diese Gene einer bestimmten Systematik folgen und man sagen könnte, dass zwar hunderte von Genen betroffen sind, aber hier immer nur Auswirkungen auf einen Mechanismus der Niere festgestellt werden können – da alle Gene mit Funktionen der Niere assoziiert sind. Es wird aus untersucht, wie Regenerationsprozesse beispielsweise in der Leber organisiert sind, und wie eine große Zahl von Zellen genau ihre individuellen Plätze finden. Es gibt noch viele weitere Beispiels, die Grundlage all dieser Analysen bilden immer mathematische Modelle, die im Computer simuliert werden, um Aussagen über Reaktionen von komplexen Systemen zu erhalten, mal über die Leber, mal über den ganzen Körper.
Auch angesprochen werden:
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- Toxiko- oder Pharmakokinetik
- Allergie und chronische Toxizität
- Industrielle Chemikalien
Bernd stellt die grundsätzliche Frage: Wann oder warum ist eine Substanz giftig? Die Antwort von Herrn Hengstler: Da gibt es viele Möglichkeiten. Die Substanz kann reaktiv sein und an Proteine binden, dann ist das Protein nicht mehr funktionsfähig. Oder die Substanz reagiert mit Rezeptoren und simuliert damit körpereigene Stoffe, die ein falsches Signal senden. Die aufgenommene Substanz kann auch gar nicht toxisch sein, lediglich das Stoffwechselprodukt im Körper ist giftig. Letzteres gilt auch oft für krebserregende Substanzen. Herr Hengstler erzählt auch, dass es hier sehr spannend ist auf die Evolution der Enzyme zu schauen, die Substanzen verstoffwechseln. Denn bei dieses Enzymen gab es einen großen Evolutions-Schub genau zu dem Zeitpunkt als das Leben seinen Weg aus dem Wasser ans Land gefunden hat. Dazu ist das Stichwort „animal plant warfare“ wichtig.
Link dazu: Wissenschaftlicher Artikel, engl.: Wöll et al., Animal plant warfare and secondary metabolite evolution, Nat Prod. Bioprospect 2013.
Zu Tierversuchen: Oft wird kritisiert, dass eine Maus oder eine Ratte sehr unterschiedlich funktionieren, im Vergleich zum Menschen. Prof. Hengstler sagt dazu, dass hier den Wissenschaftler*innen zu wenig zugetraut wird, da sich alle Forschenden dieser Unterschiede sehr bewusst sind. Um mit Versuchen an beispielsweise Mäusen Rückschlüsse auf den Menschen machen zu können, gibt es wieder die Systemtoxikologie, die sehr detaillierte Modelle hat, um genau diese Unterschiede zu Überbrücken und Schlüsse zu ziehen, die auch für den Menschen relevant sind. Bernd fragt anschließend danach, wie ein Tierversuch genau abläuft und Herr Hengstler erklärt die Abläufe für verschiedene Fälle und Analysen. Er spricht unter anderem auch die RNA-Seq Methode an.
Wir kommen zu den aktuellen Projekten von Prof. Hengstler. Er beschäftigt sich mit „omic“-Ansätzen, oder zu Deutsch „-omik„, eine Nachsilbe die aussagt, dass man sich mit der Analyse von Gesamtheiten ähnlicher Einzelelemente beschäftigt, beispielsweise GenOMIK, oder ProteOMIK. Es gibt aber auch verschiedenste Mikroskopietechniken, die eingesetzt werden, wie die CARS-Mikroskopie, die auf nichtlinearer Raman-Spektroskopie beruht, oder der Zwei-Photonen Mikroskopie (Multiphotonenmikroskop). Mit den zuletzt genannten Techniken kann man auch in den lebenden Organismus hinein schauen. Es werden aber auch endoskopische Methoden verwendet, um Bilder aus Versuchstieren zu erhalten. Prof. Hengstler untersucht mit all diesen Techniken vor allem wie Stoffe aufgenommen werden, wohin sie transportiert werden und wie sie verstoffwechselt werden. Im Prinzip also Pharmakokinetik, die wir bereits angesprochen hatten.
Dazu gibt es ein aktuelles Beispiel, eine Forschungsarbeit aus einer Nachwuchsgruppe des IfADo: Cholestase: Riss in Lebermembran lässt Galle abfließen. Herr Hengstler erklärt ausführlich was dort herausgefunden wurde, einiges kann man auch in der verlinkten Pressemitteilung des IfADo nachlesen. Für diese Arbeit wurde auch ein Zwei-Photonen-Mikroskop benutzt mit dem in einer lebenden Maus ein Galleninfarkt aufgenommen werden konnte. Den schematischen Versuchsaufbau kann man weiter oben sehen. Zu einigen beteiligten Substanzen wusste Prof. Hengstler nur noch die Abkürzungen, aber er hat uns nach der Aufnahme per Mail kontaktiert: „An die Namen der Toxine habe ich mich nicht erinnert, darum habe ich es nachgeschlagen: im Tierversuch setzt man dafür meist 3,5-Diethoxycarbonyl-1,4-dihydrocollidin (DDC) oder α-Naphthylisothiocyanat (ANIT) ein; aber auch zahlreiche Antibiotika, Schlafmittel, Schmerzmittel und Antidepressiva können die angesprochenen Gallenwegserkrankungen auslösen.“
Da wir gerade die Leber, Leberinfarkt und Galleninfarkt besprochen haben, sprechen wir über ein anderes Organ: die Niere. Oder genauer gesagt über das Zusammenspiel von Niere und Leber. Und wenn wir schon dabei sind, ist das Thema Alkoholmissbrauch nicht weit. Bei einer geschädigten Leber durch Alkohol kann es recht schnell zu einem Ammoniak-Koma kommen. Wir besprechen aber auch noch andere Schädigungen des Körpers durch Alkoholmissbrauch. Siehe auch: Alkoholkrankheit (Wikipedia-Artikel).
Schließlich fragen wir Herrn Hengstler, wie man eigentlich Toxikolog*in wird. Und wie so oft bei unseren Gesprächen, spielte der Zufall durchaus eine Rolle. Schon während seines Medizinstudiums war Herr Hengstler an kleinen Forschungsprojekten mit Fokus Toxikologie beteiligt, und da er das Thema und die Herangehensweise sehr spannend fand, hat er diesen Weg weiter verfolgt. Aber man muss nicht unbedingt Mediziner*in sein um Toxikolog*in zu werden, jede/r Naturwissenschaftler*in kann den Weg in die Toxikologie einschlagen.
Prof. Hengstler war auch kommissarischer Leiter der Rechtsmedizin in Leipzig und hat sich dort vor allem mit forensischer Toxikologie beschäftigt, bevor er Leiter des IfADo wurde.
Das IfADo hat auch auch noch andere Abteilungen neben der Toxikologie: die Immunologie, Ergonomie und Psychologie & Neurowissenschaften.
Angesprochene Themen:
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- „Der Todeskuss der Killerzelle“
- Kognitive Fähigkeiten im Alter
- Weitere Themen aus dem IfADo:
Lieblingsmolekül: Herr Hengstler hat kein Lieblingsmolekül – schließlich ist er Systemtoxikologe und vor allem am Verstehen eines gesamten Systems interessiert.
Wir bedanken uns sehr bei Eva Mühle und bei Prof. Jan Hengstler für das Gespräch.
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