WSR019 Schlaganfall, Stroke Units und die Verantwortung der Forschung - Interview mit Prof. Dr. Ulrich Dirnagl

Bernd und André sind zu Gast am BIH, dem Berlin Institute of Health, und treffen sich dort mit Prof. Dr. med. Ulrich Dirnagl (eigene Homepage). Das BIH ist ein Zusammenschluss aus dem MDC (Max-Dellbrück-Centrum für molekulare Medizin) und der Charité (Universitätsmedizin Berlin).

Bild von Prof. Dr. med. Ulrich Dirnagl
Prof. Dr. med. Ulrich Dirnagl (CC BY-SA 4.0, Dr. Ulrike Lachmann, Bildquelle)

Sie sprechen mit Prof. Dirnagl über den Schlaganfall, wie er zustande kommt und was man in der Notfallversorgung tut, über Stroke Units, besondere Abteilungen in Krankenhäusern, die Patient*innen nach einem Schlaganfall besser versorgen können und über die Arbeit von Herrn Dirnagl bei QUEST (Quality, Ethics, Open Science, Translation).

Bernd hat im letzten Jahr einen Vortrag von Herrn Dirnagl gehört, der sich um das Thema Schlaganfall drehte und an interessierte Laien und Schüler*innen adressiert war, in dessen Rahmen er auch sein Buch vorgestellt hat: „Ich glaub, mich trifft der Schlag“. Deswegen hat Bernd ihn angesprochen, ob er nicht Lust hätte, eine Wirkstoffradiofolge aufzunehmen.

Was ist experimentelle Neurologie?

Herr Dirnagl ist auch Leiter der Abteilung für Experimentelle Neurologie der Charité Neurologie. Für ihn bedeutet das die Arbeit in der präklinischen Forschung, also Experimente in Zellkultur und in Versuchstieren zum besseren Verständnis der medizinischen Grundlagen und um Ansätze für Therapien zu erhalten. Es wird eng mit der klinischen Neurologie zusammengearbeitet, um beispielsweise klinische Studien durchzuführen.

Was ist ein Schlaganfall?

Ein Schlaganfall ist ein schlagartig auftretendes, neurologisches Defizit in Form eines Funktionsausfalls. Das sind beispielsweise Gesichtsfeldausfälle oder Lähmungen immer unter der Voraussetzung, dass dies schlagartig einsetzt. Von biologischer oder medizinischer Seite betrachtet gibt es mehrere Arten von Schlaganfällen. Die häufigste Art ist ein ischämischer Anfall, bei dem durch einen Blutgefäßverschluss zu wenig Blut an eine bestimmte Stelle im Gehirn gelangt. Auf diese Art entfallen ca. 80% der Schlaganfälle. Die danach häufigste Art ist der blutige Schlaganfall, bei dem ein Blutgefäß platzt oder reißt und Blut ins Gewebe des Gehirns gelangt, man bezeichnet dies als Hirnblutung oder als blutigen Schlaganfall.

Diese Unterscheidung ist nicht nur akademisch wichtig, sondern auch für die Behandlung eines Patienten. Therapien für die eine Art angewandt auf einen Schlaganfall der anderen Art führt zu einer deutlichen Verschlimmerung des Zustands der/s Patient*in.

In jedem Fall ist ein Schlaganfall ein NOTFALL. Bitte rufen Sie den Rettungsdienst unter 112, wenn Sie den Verdacht haben, dass Sie oder jemand in Ihrer Nähe einen Schlaganfall hatte.

Der Schlaganfall ist die zweit-häufigste Todesursache weltweit.

Links zu diesem Abschnitt:

Wie wird ein Schlaganfall behandelt?

Es gibt zwei Möglichkeiten, einen (unblutigen) Schlaganfall zu behandeln. Einmal die Auflösung (Lyse oder Thrombolyse) des Blutgerinnsels durch Medikamente und zum anderen eine Therapie in der Stroke Unit (oder Schlaganfallstation), die mehrere Möglichkeiten  bietet,ein Blutgerinnsel zu entfernen. Eine Stroke Unit kann man sich am besten vorstellen wie etwas zwischen einer Intensivstation und einer normalen Station im Krankenhaus. Patient*innen mit einem Verdacht auf Schlaganfall, oder mit einem diagnostizierten Schlaganfall, werden dort intensiver überwacht als auf einer normalen Station mit den besonderen Anforderungen, die ein Schlaganfall mit sich bringt. Diese Stroke Units existieren bereits seit gut 30 Jahren und ihre Effektivität wurde nachgewiesen. Mittlerweile haben diese Einrichtungen auch die Möglichkeit, den Blutpfropfen mit Hilfe einer Katheterbehandlung physikalisch zu entfernen, ähnlich wie bei einer Herzkatheterbehandlung.

Auflösen des Blutgerinnsels (Lyse mit t-PA): t-PA ist ein Enzym und Teil des menschlichen Blutgerinnungssystems und ist kurz für tissue-type plasminogen activator, zu Deutsch: gewebespezifische Plasminogenaktivator. Da dieses Enzym Blutgerinnsel wieder auflösen kann, muss man genau wissen, ob es sich um einen ischämischen Schlaganfall handelt. Würde man das Medikament bei einem blutigen Schlaganfall geben, würde man den Zustand des Patienten verschlimmern, da der Körper die Blutung nicht mehr stoppen kann. Um sicherzustellen, dass es sich wirklich um einen ischämischen Schlaganfall handelt, benötigt man Bilder aus einem  Computertomographen (CT), einem Magnetresonanztomographen (MRT) oder eine spezielle Röntgenaufnahme sowie eine Angiographie zur weiteren Diagnostik. Da die Gabe von t-PA bei einem anderen Schlaganfall als einem ischämischen hohe Risiken birgt, werden hier gerade Ansätze für Telemedizin erforscht, unter anderem in Berlin mit dem Projekt ANNOTeM.

Entfernen des Blutgerinnsels mit einem Katheter: Dabei wird ein Katheter unter Röntgenbeobachtung, meistens durch die Leiste, durch eine Arterie bis ins Gehirn zum Blutgerinnsel vorgeschoben und herausgezogen. Man hat erst seit einigen Jahren genau verstanden, wie dies durchgeführt werden muss und wie der Katheter geformt sein muss, damit es wirklich gut funktioniert. Die ausschlaggebende Studie dazu stammt aus 2015 und Herr Dirnagl berichtet, als die Ergebnisse auf einer Konferenz vorgestellt wurden, waren die anwesenden Wissenschaftler so begeistert, dass es stehenden Applaus und Jubelrufe gab, wie bei einem Rockkonzert. Hier ist die Studie:

Die Mr. Clean Studie (open access): Olvert A. Berkhemer et al., A Randomized Trial of Intraarterial Treatment for Acute Ischemic Stroke, The New England Journal of Medicine, 2015, 372:11-20. Mr. Clean ist eine Forschungsgruppe bestehend aus Wissenschaftler*innen der Erasmus MC Universität Rotterdam, Academic Medical Center Amsterdam und der Maastricht Universität. Die Forschung dort wird weitergeführt. Hier der Link zur Homepage der Forschungsgruppe.

Aufenthalt in der Stroke Unit: Eine Stroke Unit ist eine Station in einem Krankenhaus mit einer Ausstattung, die teilweise aus der Intensivstation stammt, aber keine vollständige Intensivstation darstellt, um Patient*innen mit einem Schlaganfall optimal zu überwachen. Beispielsweise werden recht genau die Körpertemperatur überwacht, der Blutdruck und auch die Sauerstoffsättigung im Blut. Herr Dirnagl sagt, dass man nicht genau wisse, warum die Stroke Unit so gut funktioniere wie es bereits in vielen Studien nachgewiesen wurde. Vermutlich ist es die Kombination aus dieser intensiveren Überwachung im Vergleich zu einer Normalstation und die dadurch ermöglichte schnelle Reaktion der Ärzt*innen und Pflegekräfte. Denn die häufigste Todesursache von Schlaganfallpatient*innen in einer Klinik waren Lungenentzündungen, wie statistische Auswertungen ergaben. Schlaganfallpatient*innen sind sehr anfällig für Infektionen und daher achten Stroke Units sehr darauf, bereits frühe Anzeichen einer Infektion zu behandeln. Zurückzuführen ist diese Anfälligkeit vermutlich auf Schluckstörungen bedingt durch Lähmungen, ausgelöst durch den Schlaganfall, aber auch Blasenkatheter können Harnwegsinfektionen begünstigen, beispielsweise. Herr Dirnagls Arbeitsgruppe hat in ihrer Forschungsarbeit aber auch herausgefunden, dass ein Schlaganfall bei Patient*innen eine Immundepression auslöst, also eine verminderte Aktivität des körpereigenen Abwehrsystems.

Das Stroke-Einsatz-Mobil (StEMo)

In Berlin gibt es seit einigen Jahren drei Stroke-Einsatz-Mobile. Hier die Beschreibung dieses Fahrzeugs bei der Berliner Feuerwehr. In diesem Einsatzfahrzeug, das knapp eine Million Euro in der Anschaffung kostet, befindet sich ein kleiner Computertomograph, der nur den Kopf untersuchen kann, ein kleines Labor und als Besatzung immer ein/e Röntgenassistent*in ein/e Neurologin und ein Rettungssanitäter. Zudem ist das Fahrzeug telemedizinisch mit der Neuroradiologie der Charité verbunden, um die Besatzung des Fahrzeugs aus der Klinik zu unterstützen. Da es nur drei dieser Fahrzeuge in Berlin gibt, müssen die StEMos auch richtig eingesetzt werden. Daher wurden die Mitarbeiter*innen in der Feuerwehrleitstelle, die man am Telefon hat, wenn man die 112 wählt, extra geschult worden, um diese speziellen Fahrzeuge auch möglichst effektiv einzusetzen. In jedem Fall ist es für jemanden, der den Notruf 112 wählt wichtig, immer möglichst viel Informationen an die Mitarbeiter*innen der Rettungsleitstelle weiter zu geben.

Folgen eines Schlaganfalls

Die Folgen eines Schlaganfalls sind sehr individuell. Bei manchen Patient*innen bilden sich die Symptome nach der Gabe von t-PA vollständig zurück, bei manchen nicht, auch abhängig davon ,wie lange das Gesehen des Schlaganfalls zurück liegt. Wenn der Schlaganfall viele Stunden her ist, kann es sein, dass eine Gabe von t-PA oder ein Entfernen des Blutgerinnsels gar nicht mehr helfen kann. Das ist der Grund, warum ein Schlaganfall so schnell wie möglich behandelt werden muss. Allerdings ist eine schnelle Behandlung auch noch kein Garant dafür, dass sich alle Symptome vollständig zurück bilden, denn schon nach einigen Minuten kann Gewebe des Gehirns bei abgeschnittener Blutversorgung absterben.

Eine Reha-Behandlung und Physiotherapie nach einem Schlaganfall helfen dem Gehirn dabei, andere gesunde Bereiche zu nutzen, um beispielsweise Bewegungen wieder neu zu erlernen. Jede/r Schlaganfallpatient*in wird in den Monaten und Jahren nach dem Schlaganfall eine Verbesserung in den Ausfällen beobachten können, wenn eine Reha-Behandlung gewissenhaft verfolgt wird.

Risikofaktoren für den Schlaganfall & Prävention

Jede/r Patient*in die bereits einen Schlaganfall hatte, ist in Gefahr erneut einen Schlaganfall zu bekommen. Der größte Risikofaktor bereits vor einem Schlaganfall ist hoher Blutdruck. Dieser wird nach einem Schlaganfall immer auch behandelt. Weitere Risikofaktoren sind Diabetes, Rauchen und Bewegungsarmut.

Themenwechsel zu QUEST (Quality, Ethics, Open Science, Translation)

Prof. Dirnagl leitet auch das Instiut QUEST (Quality, Ethics, Open Science, Translation) am BIH und dort beschäftigt er sich unter anderem auch mit der Frage nach der Übertragbarkeit (Translation) von Grundlagenforschung in die Behandlung von Patient*innen. Bernd und André sprechen und diskutieren mit Prof. Dirnagl über genau das, aber auch das Förderungssystem der Wissenschaft, Studiendesigns, Publikationsanforderungen und andere Anforderungen von außen.

Links dazu:

Was ist QUEST?

QUEST ist eine Abteilung im BIH, in der Metaforschung betrieben wird, wo sich also Forschung angeschaut wird und nach guten und schlechten Beispielen gesucht wird, um das gute zu fördern und das schlechte abzustellen. Es soll die offene Wissenschaft gefördert werden, Wissenschaftler*innen geschult werden in Reproducible and Responsible Research, open data und Datenmanagement und vieles mehr. Es unterstützt aktiv Wissenschaftler*innen der Charité auch mit komplexen Interventionen, wie das Prof. Dirnagl nennt, um eine Verhaltensänderung auszulösen. Beispielsweise werden elektronische Laborbücher nicht nur angeboten, sondern auch installiert, begleitet und Befragungen dazu durchgeführt, so dass eine Nichtnutzung durch die jeweiligen Wissenschaftler*innen auffällt. Die Services bei QUEST und auch die verschiedenen Toolboxen sind auch für andere Wissenschaftler*innen nutzbar.

Im Prinzip ist QUEST ein Experiment im laufenden Wissenschaftsbetrieb und eines der größten dieser Art weltweit, sagt Prof. Dirnagl. Er sagt auch, dass dies bitter nötig ist, da Deutschland in all diesen Dingen „hinterher“ ist; die Niederlande, das Vereinige Königreich und andere Staaten sind schon deutlich weiter.

Die entwickelten Tools von QUEST sind open source, stehen also anderen zur Benutzung frei zur Verfügung und QUEST hilft auch dabei diese Tools und Methoden zu benutzen. Beispielsweise wurde ein Qualitätsmanagement und das Fehlermanagementsystem LABCIRS dort entwickelt, das frei unter github zur Verfügung steht.

Wissenschaftskommunikation und Partizipation im QUEST

Das QUEST will auch enger mit Patient*innen, die an klinischen Studien teilnehmen zusammenarbeiten. Nicht nur genauer erklären, worum es in einer Studie geht sondern auch fragen, was den einzelnen Patient*innen wichtig ist, sowohl in den jeweiligen Studien als auch im Bezug auf Forschung im allgemeinen. Mehr dazu gibt es auf der Seite von QUEST unter StakeholderEngangement in biomedizinischen Forschungsprojekten.

Aktivitäten von Prof. Dirnagl

Eine kurze Auswahl:

Werdegang Prof. Dirnagl

Bernd und André fragen Prof. Dirnagl nach seinem Werdegang und seinen Stationen bis zum Leiter der Experimentellen Neurologie an der Charité und der Leitung des QUEST.

Lieblingsmolekül

Für Prof. Dirnagl ist Acetylsalizylsäure (ASS) ganz weit oben auf seiner Liste der liebsten Wirkstoffe, weil es so vielseitig einsetzbar ist, eine interessante Geschichte hat, günstig ist und einfach ein schönes Molekül ist.

Struktur von Acetylsalizylsäure (ASS)
Struktur von Acetylsalizylsäure (ASS) (CC BY-SA 4.0, 28Smiles, Bildquelle)

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Prof. Dr. med. Ulrich Dirnagl für seine Zeit und all die Fakten und Diskussionen, die er mit uns geteilt hat.

Wir freuen uns immer über Feedback: per Mail unter info@wirkstoffradio.de, in den Kommentaren unter den einzelnen Episoden, über Twitter @wirkstoffradio oder auch als Bewertung bei iTunes oder panoptikum.social.

avatar
André Lampe
avatar
Prof. Dr. Ulrich Dirnagl
Creative Commons Lizenzvertrag
Wirkstoffradio ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert