WSR017 Warum Chili heiß und Minze kühl schmeckt oder was Chemesthetik ist - Interview mit Dr. Gaby Andersen

Bernd und André waren zu Gast am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München (LSB) und haben dort mit mehreren Wissenschaftler*innen gesprochen. Dies ist das dritte und letzte Interview aus dem LSB (erstes Interview: WSR013 Wie funktioniert unser Geruchssinn?, zweites: WSR015 Wie funktioniert unser Geschackssinn?)

Dr. Gabi Andersen (rechts) und André
Dr. Gaby Andersen (rechts) und André

Dieses Mal sprechen Bernd und André mit Dr. Gaby Andersen, die in der Sektion II: Chemorezeptoren & Biosignale die Arbeitsgruppe Chemesthetics & Metabolism am LSB leitet. Sie beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass sich manche Speisen im Mund heiß (zum Beispiel Chili) oder kalt (zum Beispiel Minze) anfühlen und welche Auswirkungen das auf den Stoffwechsel hat.

Was ist Chemesthetik?

Unter Chemesthetik oder Chemesthese versteht man eine Sensibilität von Haut und Schleimhäuten gegenüber chemischen Verbindungen. Das Besondere: diese Sensibilität wird vermittelt über Rezeptoren die normalerweise Empfindungen wie Hitze oder Kühle vermitteln. Das heißt chemische Verbindungen können beim Menschen diese Temperaturempfindungen auslösen. Im Mundraum ist der fünfte Hirnnerv, der Nervus Trigeminus für die Temperaturempfindung verantwortlich. Die Sensoren, die die Empfindung auslösen, sind Ionenkanäle.

Für das Temperaturempfinden (oder Thermorezeption) ist das Ruhemembranpotential in der Nervenzelle verantwortlich. Bei Temperaturveränderung reagiert der Ionenkanal und lässt Ionen einströmen, die dann das Potential ändern und dadurch ein Reiz an das Gehirn weitergegeben wird. Stoffe, die beispielsweise für die Schärfe im Chili verantwortlich sind, können an diesen Ionenkanal binden und so dafür sorgen, dass Ionen einströmen und damit ebenfalls der Reiz ausgelöst wird. Für das Gehirn ist das Empfinden allerdings immer gleich: Temperaturempfinden.

Welche Stoffe können Temperaturempfinden auslösen?

Die meisten Stoffe, die den oben bereits erwähnten Ionenkanal öffnen können, sind Scharfstoffe wie das Capsaicin oder Gingerol. Die grundlegende Struktur wird von der Gruppe der Vanilloiden bestimmt, zu denen das Capsaicin gehört. Bei den Vanilloiden gibt es immer eine Art „Kopfgruppe“ und einen „Schwanz“ der Lipophil ist, also in die Doppellipidmembran der Zellwand eindringen kann und so überhaupt erst einmal die Nähe zu einem Ionenkanal hergestellt werden kann.

Die Unterfamilien der Ionenkanäle, die an Chemesthese beteiligt sind

Die TRP-Kanal-Familie (kurz für Transientes Rezeptor Potential) hat mehrere Unterfamilien, von denen drei Unterfamilien für die Chemesthese im Mundraum interessant sind:

In der Abbildung oben sind bereits die verschiedenen Kanäle markiert, die für ein Wärmeempfinden verantwortlich sind, und auch durch die Bindung von Scharfstoffen stimuliert werden können. Ein kühles Gefühl im Mundraum kann durch die Kanäle TRPM8 und TRPA1 vermittelt werden. Menthol kann an den Kanal TRPM8 binden und löst so den selben Reiz aus wie ein Eiswürfel im Mundraum. Übrigens stimuliert Senf den TRPA1, der ebenfalls für das Empfinden von Kühle ausschlaggebend ist. Der TRPV2 wird erst über 50°C im Mundraum stimuliert und der einzige bekannte Bindungspartner ist das Tetrahydrocannabinol (THC).

Dr. Andersen ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass diese verschiedenen Ionenkanäle eine Temperaturempfindung vermitteln, also ob etwas heißes oder kaltes im Mundraum ist. Diese Empfindung wird auch durch eine Bindung von Stoffen an die Kanäle ausgelöst – was nicht heißt, dass Capsaicin heiß ist oder Menthol tatsächlich kühlt, diese Empfindung wird nur durch eine Bindung an die entsprechenden Ionenkanäle ausgelöst. Die Empfindung „scharf“ ist kein Grundgeschmack (WSR015 Wie funktioniert unser Geschackssinn?), deshalb könnte man „scharf“ als chemesthetischen Geschmack bezeichnen.

Die Ionenkanäle der chemesthetischen Wahrnehmung sind nicht nur im Mund

Die TRP-Kanäle wurden in vielen anderen Zellen gefunden, unter anderem auf weißen Blutkörperchen. Da diese Zellen nicht mit dem Nervensystem verbunden sind, können sie dort auch keine Informationen im Bezug auf Temperatur an das Gehirn weiter geben. Ein paar Stichworte zu diesem Abschnitt:

Die Untersuchung der chemesthetischen Ionenkanäle an Blutzellen

Dr. Andersen arbeitet mit frischem Blut von Spender*innen, die eingewilligt haben, dass ihr Blut für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden darf. Sie bezieht dieses Blut über eine Blutbank und hat keine Kenntnis über die Identität der Spender*innen. Allerdings ist sichergestellt, dass die Blutproben immer von den gleichen Spender*innen stammen.

Die Untersuchungen werden unter anderem mit einem MACS (Magnetic Activated Cell Sorting) durchgeführt. Dabei werden Zellen zunächst nach Art sortiert (beispielsweise T-Zellen), um dann eine Antwort auf einen Scharfstoff oder andere Stoffe zu messen. Wichtig dabei: Die Immunzellen müssen zunächst aktiviert werden, also durch einen Stimulus in Alarmbereitschaft versetzt werden, dass eine Infektion statt gefunden hat. Es wäre ganz fruchtbar, wenn Inhaltsstoffe von Lebensmitteln (z. B. Scharfstoffe oder Menthol) alleine eine Antwort des Immunsystems auslösen würden. Stichworte dazu:

Die Analyse der Zellreaktion auf Scharfstoffe

Als Reaktion auf einen Entzündungsreiz reagieren Immunzellen mit der Ausschüttung von Zytokinen, die mit Hilfe eines ELISA (Enzyme Linked Immunosorbent Assay) gemessen werden. Die eigentliche Aktivierung der Ionenkanäle wird über einen „Calcium-Imager“ gemessen, was auch bei nicht-Immunzellen funktioniert. Wenn sich ein Ionenkanal öffnet, können auch Calcium-Ionen einströmen. Die Zellen werden mit einem Calcium-sensitiven Farbstoff geladen, der seine Fluoreszenz verändert sobald Calcium an ihn bindet. Ändert sich also die Fluoreszenz, kann man darauf schließen, dass ein zugegebener Stoff einen Ionenkanal geöffnet hat.

Hier die Struktur eines Ionenkanals TRPA1 (PDB-ID:3J9P), der auch unter dem Namen Wasabi Rezeptor bekannt ist.

Überblick: Wo kommen diese Ionenkanäle noch vor?

Nicht nur in den Zellen der Immunantwort sind die Ionenkanäle der chemesthetischen Wahrnehmung zu finden. Dr. Andersen fällt zum TRPV1 Ionenkanal kein Gewebe ein, in dem dieser nicht vorkommt. Für diesen Ionenkanal scheint es so zu sein, dass er einfach überall im Körper vorkommt. Aber auch die anderen Ionenkanäle kommen an den unterschiedlichsten Stellen im Körper vor. Diese Ionenkanäle sind keine Seltenheit.

Sie sind auch einfacher als G-Protein koppelnde Rezeptoren aus den Folgen über Geruch und Geschmack (WSR013 Wie funktioniert unser Geruchssinn?, WSR015 Wie funktioniert unser Geschackssinn?) in eine Zelle einzubringen, da sie oft aus gleichen Untereinheiten bestehen. Schwierigkeiten bereiten diese Ionenkanäle vor allem in der Strukturaufklärung mit Hilfe der Kristallographie, zu der es auch eine Wirkstoffradio-Folge gibt: WSR011 Proteinstrukturen ausklären mit der Röntgenkristallographie.

Die aktuelle Forschung von Dr. Andersen

Wie bereits im Gespräch erwähnt, forscht Dr. Andersen zur Zeit an Butzellen und besonders an T-Zellen, mit der grundsätzlichen Frage: „Was ist die ursprüngliche Funktion der TRP-Ionenkanäle auf Immunzellen?“. Zusätzlich werden gerade Experimente durchgeführt um mit anderen Stoffen als die eigentlichen Scharfstoffe die man über die Nahrung zu sich nimmt. Denn der Körper verstoffwechselt Scharfstoffe und es soll untersucht werden, ob diese durch den Körper verarbeiteten Stoffe auch Auswirkungen auf die TRP-Ionenkanäle haben.

Es gibt bereits eine Veröffentlichung dazu. Die Studie befindet sich leider hinter einer Paywall, ist also nur für diejenigen zugänglich, die ein Abo der entsprechenden Fachzeitschrift haben. Daher werden wir nicht direkt auf den Artikel verlinken, sondern stellen euch den „Digital Object Identifier (DOI)“ zur Verfügung: 10.1021/acs.jafc.6b00030

Werdegang

Dr. Gaby Andersen hat Lebensmittelchemie studiert. Bereits im Studium hat sie gemerkt, dass die reine Lebensmittelanalytik nicht ganz genau ihr Gebiet ist, dem sie sich ihr ganzes Leben widmen möchte. Für ihre Doktorarbeit wechselte sie in die Botanik und hat in diesem Bereich promoviert. Ein Jahr nach ihrem Abschluss kam sie dann bereits ans LSB, an dem die Kombination aus Lebensmittelchemie und Biologie bereits im Namen steckt.

Lieblingsmolekül

„Eigentlich ist mir jeder Stoff lieb, der chemesthetisch aktiv ist und einen TRP-Kanal auf macht!“ – Dr. Gaby Andersen

Wenn sich Dr. Andersen entscheiden müsste, würde sie die Gruppe der Scharfstoffe nennen, könnte aus dieser Gruppe aber kein einzelnes als Lieblingsmolekül herauspicken.


Wir bedanken uns ganz herzlich bei Dr. Gaby Andersen für ihre Zeit, die Tour durch die Labore, das ganze Material, das sie uns zur Verfügung gestellt hat, und all die Fakten und experimentelle Abläufe, die sie uns erklärt hat.

Wir freuen uns immer über Feedback: per Mail unter info@wirkstoffradio.de, in den Kommentaren unter den einzelnen Episoden, über Twitter @wirkstoffradio oder auch als Bewertung bei iTunes oder panoptikum.social.

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André Lampe
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Dr. Gaby Andersen
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